Michael Sommer, Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
schön, wie der Frank gesagt hat, wieder zu Hause zu sein. Ich habe eben
dort gesessen und so bei mir gedacht, als ich früher so in manchem
Lenkungsausschuss saß - 1997, 1998, 1999, 2000 –: Mann, wie lange ist
das hin bis 2000! Wir hatten uns damals ja fest vorgenommen: Dann ist
ver.di-Normalzustand. Jetzt kommen wir in den Normalzustand, und
Normalität ist nicht einfach. Das wissen wir alle. Aber wir haben das
erreicht, was wir damals wollten, und ich glaube, darauf können alle,
die daran mitgewirkt haben, überaus stolz sein, ich sage das ganz
bewusst, bei allen Schwierigkeiten. (Beifall)
Kolleginnen und Kollegen, die Würde des Menschen ist unantastbar. An
dieses Grundprinzip unserer Verfassung knüpfen wir an, wenn wir für
gute Arbeit, für eine gerechte Gesellschaft, für Solidarität der
Starken mit den Schwachen, für eine menschliche Gesellschaft kämpfen.
Ein menschenwürdiges Leben, das heißt für uns Freiheit von Not und
Armut, aber es heißt auch Anerkennung und Respekt. Jeder und jede muss
von dieser beziehungsweise seiner Arbeit leben können. (Starker
Beifall)
Arbeit darf nicht arm machen. Deswegen kämpfen wir für eine untere
Einkommensgrenze, die auf gar keinen Fall unterschritten werden darf.
Denn von Dumpinglöhnen kann man nicht leben - würdig schon gar nicht,
liebe Kolleginnen und Kollegen. (Beifall)
Was wir brauchen, ist ein einheitlicher gesetzlicher Mindestlohn von
mindestens 7,50 Euro in der Stunde. (Beifall) Darauf haben wir uns im
DGB mit großer Mehrheit verständigt, und daran wird auch nicht
gerüttelt. Deswegen wollen wir morgen im DGB-Bundesvorstand
beschließen, dass der DGB und seine Mitgliedsgewerkschaften bis zur
Bundestagswahl im Jahr 2009 die Mindestlohnkampagne mit ganzer Kraft
fortsetzen werden. (Lebhafter Beifall) Denn wir wollen uns nicht damit
abfinden, dass Menschen von ihrer Arbeit nicht leben können, zwei oder
drei Jobs brauchen, um über die Runden zu kommen, oder in die
Schwarzarbeit gedrängt werden.
Da helfen übrigens auch Kombilöhne nicht weiter; der Oberbürgermeister
hat völlig recht. Sie sind ein völlig untaugliches Element, um
Gerechtigkeit zu erreichen. Letztlich sind sie nichts anderes als eine
staatliche Lohnkostensubvention für Arbeitgeber. (Beifall) Wenn heute,
im September 2007, in Deutschland rund 650.000 Menschen ergänzendes
Hartz IV brauchen, obwohl sie vollzeit arbeiten, dann ist das ein
dreifacher Skandal:
-
Erstens für die Betroffenen selbst, weil es ja nicht gerade
menschenwürdig ist, dass man trotz Arbeit auf staatliche Fürsorge
angewiesen ist, Kolleginnen und Kollegen. Das ist unmenschlich!
(Lebhafter Beifall)
-
Zweitens können Arbeitgeber in diesem Land offenbar jeden Armutslohn
jederzeit für jede Dauer diktieren, denn der Staat sorgt ja über Hartz
IV für den Ausgleich. (Beifall)
-
Und drittens beweist es einmal mehr: Hartz IV ist nicht nur
ungerecht für die Arbeitslosen, sondern zugleich auch ein Schmiermittel
für Altersarmut und prekäre Beschäftigung. (Starker Beifall)
Deswegen werden wir mit dieser Ungerechtigkeit unseren Frieden nicht
machen. Das gilt übrigens auch für Ein-Euro-Jobs. (Beifall)
Aktuell erleben wir die Auseinandersetzung um Mindestlöhne übrigens
hautnah in der Postbranche. Da ich hier unter Kundigen bin, kann ich
mir Einzelheiten ersparen. Aber es ist schon ein Stück aus dem
Tollhaus, dass man anständige Mindestlöhne für die Konkurrenz der Post
verhindern will, weil sie dann angeblich nicht mehr wettbewerbsfähig
wären. Ihr Wettbewerb entsteht nach dieser Logik ergo nur auf Grundlage
mieser Arbeitsbedingungen und mieser Bezahlung. (Beifall) Und die soll
dann der Staat im Zweifelsfall wieder ausgleichen - siehe Hartz
IV.
Kolleginnen und Kollegen, ich stelle fest: Das hat mit sozialer
Marktwirtschaft nichts zu tun. Das ist perverser Kapitalismus.
(Lebhafter Beifall) Auf dieses Spielchen dürfen wir uns gar nicht
einlassen. Wir brauchen die Ausweitung des Entsendegesetzes auf die
gesamte Postbranche und die uneingeschränkte Anwendung des von ver.di
mit dem zuständigen Arbeitgeberverband beschlossenen
Mindestlohntarifvertrages - sonst nichts! (Beifall)
Ich erwarte - das sage ich auch den hier anwesenden Vertretern der
Großen Koalition -, dass dieser Mindestlohntarifvertrag
schnellstmöglich nach den Regularien des bestehenden Entsendegesetzes
für allgemeinverbindlich erklärt wird, Kolleginnen und Kollegen.
(Lebhafter Beifall)
Übrigens gestatte ich mir die Anmerkung, dass wir für diese
Positionen kaum Beifall in der Presse erwarten können; denn es sind ja
schließlich vor allem auch Zeitungsverleger, die über Dumpinglöhne ihr
Schnäppchen beim Brief machen wollen. (Beifall) Die gleichen
Zeitungsverleger machen auch nicht halt vor den Arbeits- und
Lohnbedingungen ihrer Redakteurinnen und Redakteure. (Beifall)
Dass Lohndumping und Leiharbeit, Arbeitsplatzvernichtung und die
Schließung ganzer Redaktionen mittlerweile auch zum Alltag in deutschen
Medienkonzernen geworden sind, sollte auch denen zu denken geben, die
gegen gesetzliche Mindestlöhne anschreiben, Kolleginnen und Kollegen.
(Beifall)
Aber keine Stimmungsmache wird uns daran hindern, dass wir Kurs halten.
Wir werden Kurs halten: heute in der Postbranche und generell für den
gesetzlichen Mindestlohn.
Der Vollständigkeit halber füge ich an: Tarifautonomie und gesetzlicher
Mindestlohn schließen einander nicht aus. (Beifall) Tarifliche
Gestaltung, allgemeinverbindliche Tarifverträge und ein gesetzlicher
Mindestlohn gehören für uns zusammen.
Kolleginnen und Kollegen, es ist uns gemeinsam in den vergangenen
Jahren gelungen, die öffentliche Meinung zum Komplex Niedriglohnsektor
zu drehen und unsere Gesellschaft von der Notwendigkeit eines
gesetzlichen Mindestlohns zu überzeugen. Das gibt uns Anlass zur
Gewissheit: Sicher, wir brauchen einen langen Atem, aber wir werden
durchkommen, Kolleginnen und Kollegen! (Beifall)
Ein weiteres Thema, das diesen Kongress mit Sicherheit beschäftigen
wird, ist der Missbrauch von Leiharbeit in vielen Unternehmen und
Betrieben. Systematisch wird versucht, die Beschäftigten in Rand- und
Kernbelegschaften zu teilen und vielfach 20, 30, 40 Prozent der
Belegschaften durch Leiharbeiter zu ersetzen - übrigens auch hier in
Leipzig, Herr Oberbürgermeister. (Beifall) Dieser Versuch, Leiharbeit
massiv in den Betrieben einzusetzen, zielt eindeutig auf die
Untertunnelung unserer Tarife, auf die Schwächung der betrieblichen
Interessenvertretungen und bedeutet für die betroffenen
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, dass man sie heuern und feuern
können will, gerade wie es dem Leiharbeitgeber gefällt. Das ist der
Hintergrund, warum die Entleiharbeit so zunimmt.
In dieser Situation hilft meines Erachtens nur eines: Wir müssen den
Grundsatz durchsetzen, dass gleiche Arbeits- und Lohnbedingungen in den
Betrieben gleichermaßen für Stammbeschäftigte und Zeitarbeiter gelten,
und zwar vom ersten Tag an, Kolleginnen und Kollegen! (Starker
Beifall)
Im Übrigen brauchen wir wesentlich bessere Schutzregelungen im
Arbeitnehmerüberlassungsgesetz. Dazu gehört auch eine Ausweitung der
Mitbestimmungsrechte. (Beifall)
Generell hat die deutsche Gewerkschaftsbewegung die Aufgabe, sich in
den nächsten Jahren verstärkt der Zunahme sogenannter prekärer
Beschäftigung in allen ihren Formen energisch entgegenzustellen. Das
werden wir tarifpolitisch tun, aber wir brauchen auch gesetzlichen
Flankenschutz. Wir können nicht hinnehmen, dass Praktikanten für ihre
Arbeit nicht bezahlt werden. (Beifall) Wir können nicht hinnehmen, dass
immer mehr Selbstständige sich als Arbeitnehmer ohne sozialen Schutz
verdingen müssen. Wir können nicht hinnehmen, dass
Scheinselbstständigkeit immer noch nicht vollständig beseitigt ist. Und
wir wollen nicht hinnehmen, dass Leiharbeit zu Lohndumping missbraucht
wird oder dass die EU unter dem Stichwort Flexicurity
Arbeitnehmerschutzrechte schleifen will. (Beifall)
Wir werden nicht widerstandslos hinnehmen, dass sich einige immer noch
nicht von dem Gedanken verabschiedet haben, den Kündigungsschutz
verschlechtern zu wollen. (Beifall)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, all diesen Konzepten stellen wir unser
Leitbild von guter Arbeit entgegen. Wir wollen, dass Menschen
menschenwürdig leben und arbeiten können, dass die Ausbildungsnot
beseitigt wird und die Zahl der Arbeitslosen weiter sinkt.
Kolleginnen und Kollegen, ein Grußwort ist sicher nicht die passende
Gelegenheit für einen DGB-Vorsitzenden, alle Themen anzusprechen, die
mir, die uns, die Euch am Herzen liegen. Viel gäbe es zu sagen, zum
Beispiel von der Notwendigkeit, die internationalen Finanzmärkte
wesentlich stärker zu regulieren und den Heuschrecken in unserem Land
das Handwerk zu legen, (Beifall) statt sie mit Steuervorteilen auch
noch weiter hochzupäppeln, Kolleginnen und Kollegen. (Beifall)
Ich bin sicher, dieser Kongress wird deutliche Zeichen setzen im Kampf
gegen Altersarmut, im Kampf gegen eine ungerechte Steuerpolitik und
gegen soziale Ausgrenzung. Ihr, liebe Delegierte, werdet keinen Zweifel
daran lassen, dass es uns ernst ist mit der Gleichstellung von Männern
und Frauen in Beruf und Gesellschaft. (Beifall)
Nicht zuletzt werdet Ihr den gesellschaftspolitischen Anspruch der
Gewerkschaften unterstreichen. Ja, wir haben einen politischen
Anspruch, und wir werden weiter auf Parteien, Parlamente und
Regierungen einwirken, um die Lage der arbeitenden Menschen und der
sozial Schwachen in diesem Lande zu verbessern. Wir tun dies als
parteiunabhängige Interessenvertretung. Wir sind nur einem
verpflichtet: dem Willen unserer Mitglieder. Wir streiten für das Wohl
der arbeitenden Menschen. (Beifall)
Ihr, liebe Kolleginnen und Kollegen aus den Bezirken, Landesbezirken
und Fachbereichen der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft, habt in
diesen Tagen die Gelegenheit und die Aufgabe, Bilanz zu ziehen und
Ziele zu setzen. Ich bin gespannt auf Eure Beratungen und wünsche Euch
einen erfolgreichen Kongress. - Herzlichen Dank. (Beifall)