Professor Dr. William Brown, Mitglied der britischen
Mindestlohn-Kommission
(mit Beifall begrüßt)
(Text der Simultanübersetzung - das Referat wird mit Folien
illustriert)
Danke schön. - Es ist für mich eine große Freude und Ehre, hier vor
Ihrer großen Gewerkschaft zu sprechen und Ihnen etwas aus der
britischen Erfahrung mit der Einführung des nationalen Mindestlohns
mitzuteilen. Ich habe über die Diskussion in Deutschland gelesen, zum
Beispiel in der „Financial Times“ in Großbritannien. Es ist mir
aufgefallen, wie ähnlich die Diskussion hier im Vergleich zu unserer
Diskussion im Jahr 1990 und von da an in den 90er-Jahren verläuft. Man
kann also sagen, dass die Themen sehr ähnlich sind.
Sie werden diese Ähnlichkeiten entdecken, wenn Sie sich fragen, warum
Großbritannien sowie Deutschland eigentlich erst sehr spät dran waren,
den Mindestlohn einzuführen, obwohl das bereits in vielen anderen
Ländern geschehen war. Der Grund für uns - und wahrscheinlich auch für
Sie - ist, dass Großbritannien eben eine ausgeprägte Tradition der
Tarifautonomie hatte. Die Arbeitgeber und die Gewerkschaften wollten
eben die Regierung nicht Löhne festlegen lassen. Es gab in den
Gewerkschaften auch eine stark verbreitete Meinung, dass, wenn es einen
Mindestlohn gäbe, man nicht mehr so leicht den Gewerkschaften beitreten
würde. Das war vor allem bei manchen Gewerkschaften ausgeprägt. Die
Diskussion wurde vor allem auch von unseren Metallarbeitern
angeführt.
Aber die britischen Gewerkschaften waren insgesamt nicht so zufrieden
mit der Einführung, denn sie hatten in den 60er- und 70er-Jahren
schlechte Erfahrungen mit der Lohnregulierung durch den Staat
gemacht.
Warum kam es dann in den 90er-Jahren zu einem Sinneswandel? Der
Hauptgrund bestand darin, dass in Großbritannien so wie in vielen
anderen Ländern die Einkommensungleichheiten enorm zugenommen hatten.
Der Hauptgrund dafür war, dass sich der internationale Wettbewerb
wesentlich verstärkt hatte, dass es durch die Globalisierung natürlich
einfach ist, Arbeitsplätze ins Ausland, beispielsweise nach China und
Indien, zu verlegen. Das wird natürlich vor allen Dingen die Löhne der
weniger geschulten Arbeitnehmer nach unten drücken.
Gleichzeitig haben wir gesehen, dass in Großbritannien in den letzten
20 Jahren bei den Gewerkschaften die Mitgliederzahlen gesunken sind.
Wir sehen etwas Ähnliches in Deutschland. Sehr häufig sehen wir einen
Rückgang von 20 Prozent.
Wir haben gesehen, dass es im Zusammenhang damit zu einer viel
geringeren Abdeckung durch die Tarifverträge kam. Noch vor 30 Jahren
wurden 75 Prozent der Arbeitnehmer von Tarifverträgen erfasst. Jetzt
sind es nur noch ungefähr 25 Prozent. Ich denke, auch Sie hier in
Deutschland sehen diesbezüglich einen radikalen Wandel.
Außerdem kam es vor allen Dingen in jüngster Zeit zu einer zunehmenden
Zuwanderung aus Niedriglohnländern nach Großbritannien. Dazu werde ich
nachher weitere Ausführungen machen.
Man kann also sagen, dass der Staat und die Gewerkschaften in
Großbritannien ihre Einstellung veränderten.
Was den Privatsektor betrifft, so gab es das Problem, dass hier nicht
gewerkschaftlich organisierte Bereiche als Bedrohung für die
Tarifverhandlungen empfunden wurden. Je niedriger die Bezahlung im
privaten Sektor war, desto größer war die Versuchung, die Arbeitsplätze
ins Ausland zu verlagern.
Aber auch die Regierung und der Staat haben ihre Meinung geändert. Die
Regierung hat sich bemüht, die Langzeitarbeitslosen wieder in den
Arbeitsmarkt zu integrieren. Das ist sehr schwierig, wenn niedrig
bezahlte Arbeitsplätze im Privatsektor weit verbreitet sind.
Dann gab es auch noch einen finanziellen Aspekt. Die Regierung war in
großer Sorge hinsichtlich der durch den Steuerzahler zu tragenden
Kosten zur Unterstützung von Familien mit niedrigem Einkommen. Es
musste vor allen Dingen auch den Kindern Rechnung getragen werden. Die
Kinderarmut hat in den 80er- und 90er-Jahren wesentlich zugenommen. Die
Kosten wurden beträchtlich. Auch das war einer der Gründe, warum der
Mindestlohn eingeführt wurde und nunmehr alle politischen Parteien in
Großbritannien für den Mindestlohn sind.
So wurde 1999 der Mindestlohn eingeführt, und zwar definiert und
festgelegt durch die Niedriglohnkommission, die Low Pay Commission. Sie
ist das beste Beispiel für soziale Partnerschaft im britischen Kontext.
Diese Low Pay Commission berät die Regierung. Die Regierung hat diese
Ratschläge seit Einführung der Low Pay Commission angenommen. Das war
vor acht Jahren. Die Kommission besteht aus je drei Vertretern von der
Arbeitgeberseite - einer davon vom Arbeitgeberverband - und von den
Gewerkschaften - einer ist Mitglied des TUC - sowie unabhängigen
Experten, also Wirtschaftswissenschaftlern wie mich selber.
Man kann sagen, dass wir auf der Grundlage der Resultate Beratungen
durchführen. Wir reisen durchs Land und machen unsere Erfahrungen. Wir
haben in diesem Sinne ein begleitendes Forschungsprogramm zur
Feststellung der Auswirkungen erstellt, sodass wir Informationen und
Daten haben und wissen, was sich auf dem Arbeitsmarkt tut.
Es gibt ein weiteres Charakteristikum der Low Pay Commission, den
Mindestlohn durchzusetzen. Es ist sehr schwierig, einen Arbeitgeber,
der eigentlich ziemlich renitent ist, davon zu überzeugen, den
Mindestlohn zu zahlen. Es gibt natürlich durchaus skrupellose
Arbeitgeber. Wir hatten Glück, dass wir sehr stark durch die
Finanzbehörden und die Finanzverwaltung unterstützt worden sind. Das
wird mit sehr großer Energie durchgeführt.
Der Mindestlohn wurde einmal pro Jahr erhöht, auf acht Euro pro Stunde
erst am letzten Montag. Aber man kann sagen, dass man relativ
vorsichtig vorgegangen ist. Der Mindestlohn hat jährlich zugenommen.
Sie sehen an den verschiedenen Kurven, wie die Preisinflation im
Vergleich zum Durchschnittslohn aussieht. Ich denke, es gibt eine ganz
wichtige Botschaft: Zunächst einmal wurde der Mindestlohn mit ungefähr
5,20 Euro sehr niedrig angesetzt. Das betraf zu Beginn vier Prozent der
Arbeitnehmer. Aber dann haben wir gesehen, dass es keine nachteiligen
Auswirkungen gab. Dann wurde der Mindestlohn angehoben. Seit Oktober
dieses Jahres liegt er bei umgerechnet acht Euro. Ungefähr acht Prozent
aller Arbeitnehmer profitieren bereits davon, ungefähr zwei Millionen.
(Beifall)
Es ist ganz evident. Das hat natürlich erhebliche Auswirkungen auf die
Mindestlöhne gehabt. Ich möchte Sie nicht mit dem Diagramm langweilen.
Ich möchte nur dessen Aussage nennen. Wir sehen auf diesen Kurven, wie
sich die Löhne entwickelt haben in den fünf Jahren vor der Einführung
des Mindestlohns und in den acht Jahren danach. Die schwarze Kurve in
Form eines „S“ zeigt für jeden Prozentsatz der Arbeitnehmer von links
das niedrigste Niveau, nach Rechts das höchste Niveau, inwieweit sich
also die Zuwachsraten unterschieden, und zwar im Verlauf der fünf
Jahre. Die niedrig bezahlten Arbeitnehmer haben sehr schlecht
abgeschnitten. Die untere Ebene des Arbeitsmarktes ist
zusammengebrochen. Aber die oben angesiedelten Ebenen wurden immer
bessergestellt, also die dicken Katzen, wie wir auf Englisch sagen
würden, immer dicker und fetter.
Ich möchte auch noch Folgendes hinzufügen: Es gab einen starken Anstieg
der untersten zehn Prozent der Löhne im ersten Jahr. Abgesehen davon
kann man sagen, dass die Leute natürlich auch noch eine weitere
Verbesserung ihres Nettoeinkommens erfahren haben durch Steuer- und
Leistungssysteme. Ein sehr wichtiges Charakteristikum war außerdem,
dass es erhebliche Vorteile für Frauen im Vergleich zu den Männern gab.
Vor allen Dingen die Frauen waren zuvor diskriminiert. Sie schnitten
daher zunächst einmal besser ab. Der Unterschied: Die Bezahlung für
Frauen betrug ungefähr 85 Prozent des Einkommens der Männer, jetzt sind
sie gleichgestellt. Das ist auch eine große Errungenschaft.
(Beifall)
Das hat natürlich den Arbeitsmarkt wesentlich bewegt. Wie kann man das
Einkommen so vieler Menschen anheben und keine Auswirkungen auf die
Beschäftigung feststellen? Man hat befürchtet, dass die
Arbeitslosigkeit enorm zunehmen würde. Ich frage mich jetzt: Wie haben
die Auswirkungen auf das Beschäftigungsniveau ausgesehen? Die
Auswirkung war ganz außergewöhnlich. Wir haben uns das ganz genau
angesehen, denn hier gab es erheblichen politischen Druck. Es gab keine
Anzeichen für Verluste von Arbeitsplätzen durch den Mindestlohn.
(Beifall)
Es gab auch keine Anzeichen für die Zunahme von Arbeitslosigkeit zum
Beispiel im Nordosten von England oder Nordirland, wo es traditionell
sehr viel Arbeitslosigkeit gibt. Man kann auch nicht sagen, dass es
Anzeichen für eine Zunahme von Konkursen oder Insolvenzen von
Unternehmen und auf den Sektoren der niedrig bezahlten Arbeitskräfte
gegeben hat aufgrund des Mindestlohns. Ganz besonders interessant ist
gewesen, dass in den Sektoren, die betroffen waren, vor allen Dingen
hier zum Beispiel die Reinigungsindustrie, die Friseure oder die
Sicherheitsindustrie, auch Pflegeheime oder Kindereinrichtungen, die
Beschäftigung ganz allgemein angestiegen ist. Diese Sektoren florieren
mit Ausnahme der Bekleidungsindustrie, die aufgrund des internationalen
Wettbewerbs schon lange einen Niedergang erfahren hat.
Die Beschäftigung ist hier angestiegen, trotz des Anstiegs des
Mindestlohns. Man sieht, dass ungefähr fünf Prozent der Arbeitskräfte
erfasst worden sind. Es ist eine außergewöhnliche Geschichte, warum gar
keine negativen Auswirkungen eingetreten sind.
Dafür gibt es verschiedene Gründe. Einmal, weil der Mindestlohn sehr
behutsam eingeführt wurde, zunächst auf einem niedrigen Niveau und dann
langsam ansteigend. Das heißt, die Beschäftigten konnten sich ganz
allmählich daran gewöhnen.
Der zweite Grund war, dass in den meistbetroffenen Sektoren, wie zum
Beispiel dem Einzelhandel oder dem Hotelsektor, keine ausländische
Konkurrenz besteht. Wie gesagt, die betroffenen Dienstleistungssektoren
profitieren sehr viel davon, weil sie keine ausländische Konkurrrenz
befürchten müssen. Bei ihnen ist also der internationale Wettbewerb
kein Problem. Insofern haben sie profitiert.
Außerdem führt der Mindestlohn dazu, dass das Management sich besser
einfinden und seine Methoden verbessern musste. Es gab eine
Verbesserung des Equipments der Trainingsmethoden und der
Managementmethoden insgesamt.
Man kann sagen, dass zum Beispiel Insolvenzen oder die Schließung von
Anlagen nicht zugenommen haben. Es hat ganz leichte Auswirkungen
gegeben zum Beispiel dadurch, dass in einigen Unternehmen die Gewinne
leicht abgesunken sind, was sonst vielleicht nicht der Fall gewesen
wäre, obwohl, wie gesagt, die Insolvenzen nicht zugenommen haben. Die
Preise für diese Dienstleistungen sind leicht gestiegen, mehr als das
sonst der Fall gewesen wäre.
Wenn wir uns zum Beispiel den Pflegesektor ansehen, wie die
Altenpflege, oder auch andere Sektoren, ist es nicht so, dass wir als
Konsumenten, als Verbraucher mehr bezahlen sollten für diese
Dienstleistungen.
Ich möchte mit einem unerwarteten Vorteil des Mindestlohns in
Großbritannien zum Ende kommen.
Eigentlich hat im 20. Jahrhundert Großbritannien mehr Leute auswandern
lassen, als eingewandert sind. Aber seit der Mitte der Neunziger Jahre
haben wir gesehen, dass wir mehr Zuwanderung gehabt haben als
Emigration. Vor allem seit der EU-Erweiterung im Jahr 2004 haben wir
eine hohe Nettozuwanderung erfahren. Viele sind zu uns gekommen vor
allem aus Mittel- und Osteuropa, also aus Ländern mit traditionell
niedrigen Löhnen. Das hat unsere Arbeitnehmerschaft um fünf Prozent
erhöht. Nachdem der Schutz durch Tarifverträge abgenommen hat, besteht
kein Zweifel, dass die inländischen Arbeitnehmer natürlich Nachteile
erlitten hätten, weil Somalis, Inder und so weiter ins Land gekommen
wären. Das ist aber nicht geschehen, weil der Mindestlohn respektiert
worden ist oder die soziale Auswirkung sehr positive ökonomische Folgen
für die Wirtschaft Großbritanniens gehabt hat. Für diese Leute war es
wirklich wichtig, einen Mindestlohn zu haben, denn sonst hätten
vielleicht der Rechtsextremismus und auch die Fremdenfeindlichkeit
möglicherweise zugenommen.
Ich möchte jetzt zum Ende kommen. Der nationale Mindestlohn ist Teil
der Ausstattung Großbritanniens. Als der Mindestlohn am Montag
angehoben wurde, war das schon ganz normal, und es wurde dem nicht sehr
viel Beachtung beigemessen. Die Arbeitgeber haben sich auch daran
gewöhnt, denn ein anständiger Arbeitgeber möchte jetzt ja auch nicht in
die Ecke der skrupellosen Arbeitgeber geschoben werden, die zu niedrige
Löhne bezahlen. (Beifall)
Aus der Sicht Ihrer Gewerkschaft möchte ich Ihnen sagen, dass der
britische Mindestlohn wirklich von der gesamten Gewerkschaftsbewegung
stark unterstützt wird, vor allem auch die Gewerkschaften, die die
Facharbeiter re-präsentieren, sind dafür. Wir sehen jetzt auch eine
wachsende Unterstützung der Tarifautonomie. Man sieht sie nicht als
Bedrohung an. Da weite Bereiche nicht so gut organisiert sind, bietet
der Mindestlohn doch zumindest eine Basis, die verlässlich ist. Mit
Blick auf die Gewerkschaften im öffentlichen Sektor muss man sagen,
dass der Mindestlohn eher ein Schutz ist, wenn auch kein kompletter
Schutz, gegen die Gefahr, dass die öffentlichen Dienstleistungen in den
Privatsektor verschoben werden, ausgegliedert werden.
Ein weiterer Grund, warum die Gewerkschaftsbewegung das unterstützt,
ist, weil der Mindestlohn als ein sehr wirkungsvolles Instrument der
Sozialpartnerschaft gesehen wird, um schwache und nicht
gewerkschaftlich organisierte Arbeitnehmer zu unterstützen. Das war ja
immer ein Ideal der britischen Arbeiterbewegung, was man natürlich
nicht nur von Großbritannien sagen kann, sondern das ein weltweites
Phänomen ist.
Schließlich muss man sagen, dass der Mindestlohn zu dem Zeitpunkt, zu
dem die Gewerkschaften in Großbritannien im Privatsektor sehr
geschwächt waren, im Rahmen der Sozialpartnerschaft dazu geführt hat,
dass man eine gewisse Unabhängigkeit, eine gewisse Tarifautonomie
beibehalten oder zurückgewonnen hat.
Ich komme jetzt zum Ende. Ich wünsche Ihnen das Allerbeste für Ihre
Debatten über dieses wichtige Thema. Ich hoffe, dass die britische
Erfahrung für Sie ermutigend und nützlich ist. - Vielen Dank. (Starker
Beifall)
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